Digitalisierung & Laborbefund im Gesundheitswesen: “Viele Daten sind schlichtweg nicht in einer für Computer lesbaren Form vorhanden”

von | Sep 2, 2024 | Allgemein, Forschung, Gesundheit

DGKL News: Am kommenden Donnerstag wird die MIO Vision auch live im Internet übertragen. Das ist spannend, weil neben Fachleuten auch interessierte Laien zusehen werden. Was können wir erwarten?

Adler: Auf der MIO Vision wird der aktuelle Stand der verschiedenen MIOs dargestellt und deren weitere Entwicklung diskutiert. Sieht man sich das Programm an, dann kann man einen Einblick in alle aktuell in Entwicklung befindlichen MIOs erwarten. Es wird also vielseitig und spannend.

DGKL News: Der Themenblock “MIO Laborbefund” startet um 10:30 Uhr, Sie selbst sind bei diesem Panel dabei. Warum spielen Laborbefunde eine so große Rolle, wenn es um die MIOs geht?

Adler: Je nach Studie und Fachgebiet sind ca. 50 – 70% aller Diagnosen teilweise oder vollständig auf die Messung von Laborparametern zurückzuführen. Auch wenn wir mit ca. 1.300 Labormediziner*innen in Deutschland eine der kleinsten Fachdisziplinen sind, sind wir doch systemrelevant. Immerhin generieren die Labore in Deutschland täglich mehrere Millionen Laborergebnisse. Laborbefunde haben also einen hohen Stellenwert in der Versorgung unserer Patient*innen, im Krankenhaus als auch in der Arztpraxis. Dies muss natürlich auch in der elektronischen Patientenakte abgebildet werden. Dafür wird gerade das MIO Laborbefund entwickelt.

DGKL News: Wenn wir sie richtig verstehen, würden auf diese Weise Patientinnen und Patienten über ihre ePA die Laborbefunde jedem behandelnden Arzt oder Ärztin in einem systemübergreifenden Format zu Verfügung stellen. Welche konkreten Vorteile hat das bei der Erstellung von Diagnosen?

Adler: Ja genau. Wenn ein Patient aufgrund von Beschwerden zu seinem Hausarzt geht, so wird dieser, je nach Verdachtsdiagnose, Laboruntersuchungen anfordern. Das Labor führt die Analysen durch und wird die Ergebnisse als MIO an den Arzt zurücksenden oder auch das MIO direkt in die ePA des Patienten schicken. Geht der Patient dann zum Facharzt kann dieser auf die vorherig erstellten Laborbefunde zugreifen. So kann zum Beispiel doppelte Diagnostik vermieden werden und Prozesse werden beschleunigt.

DGKL News: Was passiert aber mit den Daten, wenn der Patient heiratet und plötzlich nicht mehr Mayer, sondern Müller heißt?

Adler: Das passiert ja schon heute ständig. Wenn sich die persönlichen Daten ändern, teilt man das seiner Krankenkasse mit und diese passt aktuell die Daten auf der Gesundheitskarte an. Der eindeutige Identifikator ist also aktuell die elektronische Gesundheitskarte. Im Labor läuft es in den meisten Systemen ähnlich wie auch im Krankenhaus mit einer Patienten-ID. Darüber ist dann auch bei Namenswechsel eine eindeutige Zuordnung möglich. Perspektivisch wird man für die ePA aber eine modernere Art der digitalen Identitätsverwaltung einführen, die sogenannte GesundheitsID. Diese ist bereits seit dem 1.1.2024 auf freiwilliger Basis nutzbar. Man muss sich einmalig registrieren und kann dann diese GesundheitsID dann ähnlich wie zum Beispiel eine digitale Identität im App Store verwenden

DGKL News: Die eGK-Nummer als ID zu nutzen ist schlau, erinnert uns aber an die Diskussion um die Steuer-ID. Anders formuliert: Wir garantiert man die Sicherheit der Daten?

Adler: Um die Sicherheit der Gesundheitsdaten zu gewährleisten, findet die gesamte Kommunikation rund um die ePA nicht „frei im Internet“ sondern in einer Art abgetrennten, stark gesicherten Netzwerk statt. Dieses Netzwerk heißt Telematikinfrastruktur (TI), zugegeben ein etwas staubiger Begriff. Diese TI existiert schon länger und wird auch genutzt. Verantwortlich ist hier die gematik, also die Digitalagentur für Gesundheit in Deutschland. Sie hat im Rahmen der Erneuerung der TI hin zur TI 2.0 das Bild einer „Arena für digitale Medizin“ entwickelt. Keine Angst, Arzt und Patient sollen nicht gegeneinander antreten, sondern es geht eher um ein Miteinander mit gleichen Regeln und Werten, ähnlich wie bei den Olympischen Spielen. Die gematik stellt dabei die Ressourcen, also die Arena zur Verfügung und fungiert wie ein Schiedsrichter, der die Regeln für verschiedenen Disziplinen (Labore, Apotheken, Physiotherapie, Krankenhaus, Allgemeinmedizin, …) festlegt und deren Einhaltung kontrolliert. Sie ist dabei auch für die Sicherheit der Daten aller Teilnehmer verantwortlich. Konkret heißt das, dass die gematik zum Beispiel den Herstellern von Praxissoftware Vorgaben zur Sicherheitsarchitektur ihrer Produkte machen kann. Nur wenn diese erfüllt werden kann das Produkt im Rahmen der TI eingesetzt werden.

DGKL News: Und wenn die Server schlichtweg aus technischen Gründen ausfallen – wie sollen behandelnde Ärzte dann an die Blutwerte ihrer Patienten kommen?

Adler: Prinzipiell kann das natürlich auch heute schon passieren. Die meisten Befunde werden auch heute schon elektronisch an die Arztpraxen oder per App auf die Smartphones der Ärztinnen und Ärzte übertragen. Für kritische Befunde nehmen wir als Laborärzte aber natürlich auch mal das Telefon in die Hand und geben unseren Kolleg*innen Bescheid. Die Gefahr besteht zukünftig eher in einem großflächigen Ausfall der Telematikinfrastruktur. Dieser Punkt ist definitiv nicht zu verachten. Wir hatten ja in der Vergangenheit nun schon regelmäßig Ausfälle der TI, sodass zum Beispiel großflächig keine e-Rezepte versendet werden konnte. Hier muss die Resilienz der TI noch deutlich gesteigert werden.

DGKL News: Uns hat überrascht, wie viel Akteure sich für das Thema am 5.9 in Berlin begeistern. KBV, Die Techniker, Medizinische Fachlabore, Sonic Healthcare – um nur einige zu nennen, die anwesend sein werden. Dabei geht es sicher auch ums Geld: Wo liegen die finanziellen Vorteile für das Gesundheitssystem, MIOs im Bereich der Labormedizin zu etablieren?

Adler: Ich denke die finanziellen Vorteile liegen vor allem in der Kostenreduktion für das gesamte Gesundheitswesen. Ganz wesentlich ist hierbei die doppelte Durchführung von Untersuchungen zu nennen, die leider oft einfach aus Unwissenheit über bereits erfolgte Diagnostik immer wieder vorkommt. Viel größer schätze ich aber den Mehrwert für die Kolleg*innen und Patient*innen ein. Zugriff auf die Vorbefunde auch aus anderen Laboren zu haben, kann zum Beispiel die Zeit bis zur richtigen Diagnose deutlich verkürzen. Das spart weitere Arztbesuche ein, kann so die Praxen zeitlich entlasten und die Patient*innen können schneller ihre Therapie erhalten. Allerdings müssen wir bis dahin noch einige fachliche Hürden nehmen, denn die Labordiagnostik ist in manchen Punkten sehr komplex.

DGKL News: Sie zählen als Labormediziner zu den Fachärzten, die auch einen komplexen Laborbefund richtig interpretieren können. Ließe das MIO Laborbefund System – rein technisch betrachtet – die Anbindung einer KI zu, um Allgemeinmedizinern bei der Auswertung der Daten zu helfen?

Adler: Technisch ließe sich dies sicherlich umsetzen. Die Frage ist hier eher ob wir einem solchen Modell Vertrauen schenken wollen. Auch wenn die aktuellen großen Sprachmodelle wie GPT4o, Mistral oder auch spezielle Modelle wie MedPaLM2 (auf medizinischen Daten trainiertes Modell von Google) mittlerweile deutlich seltener „Quatsch reden“ (oft als „halluzinieren“ bezeichnet) gibt es immer wieder wissenschaftliche Arbeiten, die die Grenzen dieser Modelle im medizinischen Bereich aufzeigen. Von ethischen Fragestellungen wie einer gewissen Portion „sprachlichem Rassismus“, dem Urheberrechtsproblem beim Training solcher Modelle oder dem enormen Energiebedarf einmal abgesehen.

DGKL News: Haben Sie für uns ein Beispiel das aufzeigt, welche Fallstricke bei der Auswertung von Blutwerten existieren – und warum ein MIO Laborbefund Abhilfe schaffen kann?

Adler: Das beste Beispiel sind hier sicherlich schlichtweg fehlende Informationen. Vielleicht wird eine bestimmte Analyse nur von einem Speziallabor angeboten. Dieses Labor hat dann auch nur die Anforderung für diese besonderen Analyse, benötigt aber zur sinnvollen Interpretation oftmals weitere Daten. Diese könnten dann in der ePA des Patienten vom Laborarzt nachgeschaut werden. Wir werden also, so ist jedenfalls mein Traum, deutlich mehr Informationen über unsere Patient*innen haben und können so die Nützlichkeit und die Qualität unserer Befunde weiter steigern und auch individueller auf unsere Patient*innen eingehen. Richtig spannend wird es dann, wenn wir es schaffen, die Daten aus den verschiedenen Bereichen der ePA zu analysieren und neue Muster zu entdecken. Ich denke hier wird sich in Zukunft auch unser Verständnis von verschiedenen Krankheiten ändern. Einfach weil wir in Zukunft Datenquellen zusammenführen und auswerten können, die uns heute noch nicht in dieser Form zur Verfügung stehen.

DGKL News: Das klingt sehr futuristisch und erinnert uns an die KI-generierten Diagnosen aus “Raumschiff Enterprise”. Wo stehen wir, real betrachtet, heute?

Adler: Die Algorithmen zur Analyse von riesigen Datenmengen stehen uns ja heute schon zur Verfügung. Letztendlich nutzt jeder von uns solche KI-Algorithmen wenn wir Google Maps nutzen, bei Amazon bestellen oder unsere Timeline in sozialen Netzwerken durchforsten. Im Gesundheitswesen liegt unser Problem aktuell aber im Schritt davor, in der Qualität der Daten. Viele Daten sind schlichtweg nicht in einer für Computer lesbaren Form vorhanden. Und wenn sie vorhanden sind, dann oft in einer nicht standardisierten Form, sodass Daten aus Krankenhaus A mit Daten aus Krankenhaus B nicht kompatibel oder vergleichbar sind. Genau dieses Problem gehen wir jetzt aber glücklicherweise mit der Standardisierung und Interoperabilität in Form der MIOs an. Wenn die ePA in der Form, wie Sie gedacht ist laufen wird, dann können wir gespannt sein, was uns moderne Algorithmen des maschinellen Lernens an neuem Wissen generieren werden.

DGKL News: Herr Adler, vielen Dank für Ihre Zeit.

Das Interview führten DGKL Nachrichtenredakteure Marita Vollborn und Vlad Georgescu.


Weiterführende Informationen:

Lesen Sie auch Teil 1 des NACHGEFRAGT-Interviews mit Jakob Adler:


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