NACHGEFRAGT: „Es fehlen verlässliche rechtliche Vorgaben“
Wie verbessert der KI-Einsatz die Arzneimittelforschung?
Dagmar Krefting: Künstliche Intelligenz ist überall dort besonders nützlich, wo komplexe Zusammenhänge zwischen vielen verschiedenen Einflussfaktoren bestehen. Dies ist bei der Entwicklung von Arzneimitteln der Fall: Ein Medikament muss nicht nur eine gewünschte Wirkung entfalten, sondern sollte keine unerwünschten Nebenwirkungen verursachen, möglichst wenig Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten haben, gut verträglich sowie kosteneffizient herstellbar, lagerfähig und leicht zu verabreichen sein. Dabei treffen komplexe biochemische Stoffkombinationen auf hochkomplexe menschliche physiologische Prozesse. Hier die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu finden, also ein neues Medikament in der Fülle der potenziellen Kandidaten, ist durch Laborexperimente und klassischen klinische Studien nur noch mit sehr hohem Aufwand möglich. Folge davon ist, dass Arzneimittelentwicklung ein sehr teurer und langwieriger Prozess ist – im Schnitt dauert es von der Patentanmeldung bis zur Zulassung 12 Jahre. Künstliche Intelligenz kann helfen, aus den existierenden Daten zu Wirkstoffen, biochemischen Strukturen und Prozessen sowie Wirkungen und Nebenwirkungen von Arzneimitteln in Studien und in der Gesundheitsversorgung mögliche Wirkstoffkandidaten zu identifizieren und deren Wirkung bei unterschiedlichen Patientengruppen vorherzusagen. Dabei liegt ein besonders hohes Potenzial in der Optimierung der klinischen Prüfungen durch neue datengestützte Studiendesigns und virtuelle Studiengruppen.
Wie verbreitet ist KI in der Entwicklung neuer Medikamente?
Dagmar Krefting: Es existieren weltweit nur etwa 700 Unternehmen, die KI-gestützte Lösungen in der Arzneimittelentwicklung anbieten, insbesondere im präklinischen Bereich. Ein Einsatzbereich ist die Vorhersage von geeigneten Einflussmöglichkeiten auf Krankheitsentwicklungen, den sogenannten Targets. Hier werden zum Beispiel genetische Daten mit wissenschaftlicher Literatur verknüpft, um Wirkstofftargets vorherzusagen. Auf Basis eines Targets gibt es KI-Ansätze, die Wirkstoffstrukturen vorhersagen, teilweise bereits auch wichtige Eigenschaften wie Toxizität und Herstellbarkeit abschätzen. Die Wirkstoffstruktur kann anschließend KI-gestützt weiterentwickelt werden, das heißt zum einen der Herstellungsprozess, aber auch die Wechselwirkung mit dem menschlichen Stoffwechsel in virtuellen Experimenten erprobt und optimiert werden. Bisher wenig eingesetzt wird KI bei der Durchführung der klinischen Studien bis zur Zulassung eines Arzneimittels. Dabei machen diese zwischen der Hälfte und zwei Drittel der Gesamtentwicklungskosten aus und stellen zudem besonders kritische Phasen dar, da die Arzneimittel bei Menschen zum Einsatz kommen. Die bereits oben genannten Potenziale von KI in der Evidenzgenerierung und der Prozessoptimierung bei klinischen Studien werden aktuell auch aufgrund mangelnder rechtlicher Vorgaben zum Einsatz von KI in diesem Bereich nicht genutzt.
Was muss noch getan werden, damit das Gesundheitswesen von der KI-gestützten Wirkstoffforschung profitieren kann?
Dagmar Krefting: Generell muss KI in Bereichen, in denen ihr Einsatz hohe Risiken birgt, auf einer für den jeweiligen Anwendungsfall repräsentativen Datenbasis von hoher Qualität trainiert werden und vertrauenswürdig sein. Dies bedeutet, die mit der KI erzeugten Vorhersagen müssen nachvollziehbar und reproduzierbar sein, und insbesondere müssen die Grenzen, in denen die KI zuverlässige Ergebnisse liefern kann, klar gesetzt werden. Dabei spielt die Verfügbarkeit und die Qualität von repräsentativen Daten zur Entwicklung einer KI eine wesentliche Rolle für deren Leistungsfähigkeit. Wenn wir wollen, dass KI-Modelle auch für die lokale Bevölkerung und das deutsche Gesundheitswesen geeignet sind, dann müssen diese Daten zum einen digital vorliegen und zum anderen durch Forschende genutzt werden können. Durch das Gesundheitsdatennutzungsgesetz sind hier die Forschungsmöglichkeiten deutlich verbessert worden, dies hilft aber nichts, wenn die Datenbasis nicht vorhanden ist. Doch selbst ein wissenschaftlich fundiertes und vertrauenswürdiges KI-gestütztes System kann nur in klinischen Prüfungen eingesetzt werden, wenn die Zulassungsbehörden dieses auch als geeignetes Verfahren akzeptieren. Hierzu sind verlässliche Vorgaben notwendig. Inwieweit hier EU-weite Regelungen wie der European Health Data Space, die Medical Device Regulation oder der AI Act für Planungssicherheit sorgen können oder weitere Hürden im internationalen Vergleich darstellen, muss sich in der Praxis zeigen.
Interview: UM Göttingen
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