“Die Verwendung von Abrechnungsdaten für eine medizinische Plausibilitätsprüfung bei ambulanten Patienten ist zu hinterfragen.”

von | März 17, 2025 | Allgemein, Gesundheit, Politik

Priv.-Doz. Dr.med. Matthias Orth Arzt für Laboratoriumsmedizin Medizinhygiene, Hämostaseologie F.E.B.M.B. Orth ist Chefarzt des Instituts für Laboratoriumsmedizin, Vinzenz von Paul Kliniken gGmbH, Marienhospital Stuttgart. In einem Exklusivinterview sprach er mit MedLabPortal über die jüngste Studie der TU Berlin, die am Beispiel von TSH-Messungen im ambulanten Bereich eine “Überversorgung” im Gesundheitswesen ausmachte. (wir berichteten). Angesichts der daraus resultierten Verunsicherung hat Orth für Patientinnen und Patienten eine Empfehlung.

MedLabPortal: Die S2K-Leitlinie der DEGAM/AWMF auf Seite 17 ist unmissverständlich: Bei einer auffälligen Anamnese muss der Arzt den fT4-Wert bestimmen. Was ist an dieser Leitlinie falsch?

Orth: Die Leitlinie ist korrekt! Die Herausforderung bei der Schilddrüsendiagnostik sind die ganz unterschiedlichen Fragestellungen wie “Ausschluss einer Schilddrüsenkrankheit” oder “Therapiekontrolle unter Substitution”. Ein generelles Screening von Asymptomatischen wird (sinnvollerweise) nicht empfohlen, aber bei einem Verdacht auf eine Schilddrüsenstörung erfolgt die TSH Bestimmung, und bei einem pathologischen TSH Ergebnis muss die Bestimmung der freien Hormone erfolgen.  Die Leitlinie versucht aus den vielen Leitlinien von anderen Gesellschaften einen Kompromiss zu vermitteln und kann dabei nicht auf alle Details und Besonderheiten eingehen.

MedLabPortal: Wenn die Leitlinie nach wie vor gilt: Wie erklären Sie sich den Vorstoß und die Interpretation der Studienautoren?

Orth: Die Autoren haben die Abrechnungsdaten gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung als Grundlage der Überprüfung der medizinischen Plausibilität verwendet. Dabei ist zu berücksichtigen, welche Funktion die Angabe von ICD Codes hat und wieviel bzw. wiewenig Aufwand für die Codierung verwendet wird. Gerade weil ja die Symptome von Schilddrüsenstörungen sehr vielschichtig sein können, eine Schilddrüsenunterfunktion einfach therapiert werden kann und die TSH Bestimmung sehr wenig Ressourcen bedarf, werden die Untersuchungen häufig angefordert und, bei einem unauffälligen Befund, der Ausschluss einer Hypothyreose verständlicherweise nicht nach ICD codiert. Die Verwendung von Abrechnungsdaten für eine medizinische Plausibilitätsprüfung bei ambulanten Patienten ist zu hinterfragen. Nicht nachvollziehbar ist auch die Auswahl der Diagnosen, für die die Autoren eine Schilddrüsenhormonbestimmung als zulässig erachten. So wäre es bei einer subklinischen Jodmangel-Hypothyreose ihrer Ansicht nach unsinnig oder sogar schädlich, die freien Hormone zu bestimmen. Das ist medizinisch nicht nachvollziehbar.

Eine andere Herausforderung ist die Festlegung der Referenzbereiche bzw. der Entscheidungsbereiche. Es gibt die absolut Schilddrüsengesunden mit einem TSH <1,5 U/l (im Refererenzbereich) und die eindeutig Hypothyreoten mit einem TSH>10 U/l, aber gerade für die latente Hypothyreose sind die Diagnosekriterien nicht eindeutig und diese vielen Patienten dürfen nicht mit dem Verweis auf den angeblichen Schaden einer Hormonbestimmung von einer weitergehenden Diagnostik und Therapie ausgeschlossen werden.

Priv.-Doz. Dr.med. Matthias Orth Arzt für Laboratoriumsmedizin Medizinhygiene, Hämostaseologie F.E.B.M.B. Orth ist Chefarzt des Instituts für Laboratoriumsmedizin, Vinzenz von Paul Kliniken gGmbH, Marienhospital Stuttgart. Foto: Privat
Priv.-Doz. Dr.med. Matthias Orth, Arzt für Laboratoriumsmedizin Medizinhygiene, Hämostaseologie F.E.B.M.B. Orth ist Chefarzt des Instituts für Laboratoriumsmedizin, Vinzenz von Paul Kliniken gGmbH, Marienhospital Stuttgart. Foto: Privat

MedLabPortal: Die Anamnese dürfte aber in sehr vielen Fällen unklar sein, wenn man sich die Leitlinie durchliest. Welche Mehrkosten verursacht eigentlich die Bestimmung von TSH und fT4 von Beginn an?

Orth: Die gesetzlichen Kassen zahlen mit befreiender Wirkung, d.h. eine zusätzliche Untersuchung kostet den Kassen kein Geld bzw. eine unterlassene Messung spart den Kassen kein Geld. Das Geld wird nur zwischen den Ärzten umverteilt. Die aktuellen Beträge liegen quotiert bei 2,03 € für das TSH und 3,15 € für das fT4. Dazu eine Anmerkung: die in der Studie angeführten Kosten sind zu hoch.

MedLabPortal: Wir kennen Fälle aus der Praxis, die so aussehen: Der Allgemeinmediziner bestimmt aus Angst vor Plausibilitätsüberprüfungen immer nur den TSH-Wert. Ist dieser auffällig, erfolgt die Überweisung zum Nuklearmediziner. Der wiederum bestimmt dann TSH, fT3 und fT4. Bevor der Patient ein Ergebnis vorliegen hat, vergehen Wochen, weil Termine bei Nuklearmedizinern rar sind. Was läuft da falsch?

Orth: Durch dieses Vorgehen mit der Überweisung wird sehr viel mehr Aufwand generiert als nötig und die Behandlung der Patienten ist dabei offensichtlich nicht optimal. So kommt es zu einem zusätzlichen Arztkontakt ohne Konsequenz für den Patienten und in der Regel auch zu einer zusätzlichen, meist überflüssigen, TSH Bestimmung. Weiter ist zu erwarten, dass einige therapiebedürftige Patienten nicht den 2. Termin wahrnehmen und so der Nutzen der ersten TSH Messung nicht mehr gegeben ist. Sinnvoll wäre eine Anforderung im Sinne eines diagnostischen Pfades, d.h. einer automatisierten Stufendiagnostik, wie sie ja z.B. so auch von der Kassenärztlichen Vereinigung empfohlen wird.

MedLabPortal: Die Krankenkassen betrachten also lediglich die Kosten und vergleichen den rein ökonomischen Vorteil bei der TSH-Bestimmung ohne fT3 und fT4 – egal, ob dadurch einige Patienten auf der Strecke bleiben?

Antwort: Die Studie suggeriert ja im Titel, dass es sich bei den Schilddrüsenhormonuntersuchungen um schädliche Untersuchungen, auch bezeichnet als “low value care”, handelt. Es gibt unbestrittene schädliche Untersuchungen, wie sie z.B. beim “Choosing wisely” aufgeführt werden. Nur gehören die von den Autoren der Studie aufgeführten Untersuchungen mit Sicherheit nicht zu den schädlichen Untersuchungen und die Studie verleitet dazu, die Überprüfung der Schilddrüsenfunktion als nutzlos oder sogar schädlich zu klassifizieren. Auch der Verweis bei anderen medizinischen Leistungen der Studie, dass diese als IGEL abgerechnet werden sollen, ist ja kein Beweis für die grundsätzliche Schädlichkeit der Leistungen, denn einige IGEL Leistungen sind ja in den Katalog der GKV aufgenommen worden.

Auch ist die alleinige Betrachtung der Kosten einer Laboruntersuchung zu kurz gesprungen. Das bedeutet ja, dass das Gesundheitssystem, das überhaupt nichts leistet, das optimale wäre. Das ist ja offensichtlicher Unsinn, denn sogar aufwändige medizinische Leistungen können sehr wohl sehr kosteneffektiv sein.

MedLabPortal: Welche Lösung wäre aus Sicht der Labormedizin sinnvoll?

Orth: Aktuell wird sehr viel Aufwand betrieben von Niedergelassenen, die Kosten für Laboruntersuchungen anderen Ärzten zuzuweisen. Wenn sie Laborleistungen unterlassen, wird dieser Geldbetrag  an den Arzt ausgezahlt als sogenannter “Wirtschaftlichkeitsbonus”. Es wäre angezeigt, dieses Geld anstelle für die Unterlassung von Diagnostik besser für die Patienten zu verwenden, und zwar indem für diese Patienten eine leitliniengerechte Diagnostik, z.B. auf Schilddrüsenstörungen, erfolgen würde.  Der Umfang, die Häufigkeit und die Abfolge der Untersuchungen abhängig von den Ergebnissen der ersten Untersuchungen sind ja in wissenschaftlichen Leitlinien vorgegeben und haben ihren eindeutigen medizinischen Nutzen bewiesen. Der bloße Verweis auf die angeblichen Kosten ist kein Argument, solch eine sinnvolle und kosteneffiziente Diagnostik zu unterlassen. Der Nutzen dieser Diagnostik ist ja sowohl für den Patienten wie auch für die Gesellschaft. Noch eine Bemerkung zum Krebsscreening bei Dialysepatienten: das Screening bei diesen Patienten als schädlich zu bezeichnen, halte ich für hochgradig unethisch.

MedLabPortal: Und was raten Sie Patientinnen und Patienten, die sich in der niedergelassenen Praxis die Schilddrüsenwerte bestimmen lassen möchten, weil sie diffuse Symptome des Unwohlseins verspüren?

Antwort: Sie mögen auf die evidenzbasierte Empfehlung der Kassenärztlichen Vereinigung verweisen, dass bei Ihnen ein TSH angefordert wird und bei einem pathologischen Befund automatisch das freie T4 und ggf. das freie T3 mitbestimmt wird.

MedLabPortal: Vielen Dank für Ihre Zeit.

Das Interview führten die MedLabPortal Redakteure Marita Vollborn und Vlad Georgescu

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Redaktion: X-Press Journalistenbürö GbR

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