NACHGEFRAGT: “Die damalige Zeit war schlichtweg reif für die Entdeckung des Lymphsystems”

von | Okt 1, 2024 | Allgemein, Gesundheit

Das frühzeitige Erkennen von Anzeichen und Symptomen eines Lymphödems ist entscheidend, um Betroffenen unnötiges Leiden zu ersparen und zeitnah eine adäquate Therapie zu beginnen, wodurch das Fortschreiten der Krankheit verhindert werden kann. Die heutigen Behandlungsmethoden, wie die medizinische Kompressionstherapie und die manuelle Lymphdrainage, basieren auf einem fundierten Verständnis des Lymphsystems. Bernd Roling lehrt als Professor für Griechische und Lateinische Philologie an der Freien Universität Berlin.

Bernd Roling studierte ab 1993 die Fächer Mittellateinische Philologie, Lateinische Philologie, Philosophie, Geschichte, Hebräische Philologie und Indologie an der Universität Münster. Seit dem Wintersemester 2010 / 2011 ist er Professor für Griechische und Lateinische Philologie an der Freien Universität Berlin. Beim Synergie Kongress von medi sprach er über die Entdeckung des Lymphsystems im 17. Jahrhundert. copyright: medi GmbH & Co. KG. Fotograf: Vitali Tobert
Bernd Roling studierte ab 1993 die Fächer Mittellateinische Philologie, Lateinische Philologie, Philosophie, Geschichte, Hebräische Philologie und Indologie an der Universität Münster. Seit dem Wintersemester 2010 / 2011 ist er Professor für Griechische und Lateinische Philologie an der Freien Universität Berlin. Beim Synergie Kongress von medi sprach er über die Entdeckung des Lymphsystems im 17. Jahrhundert. copyright: medi GmbH & Co. KG. Fotograf: Vitali Tobert

Herr Roling, weshalb ist ein Blick in die Vergangenheit wichtig, wenn wir über das Thema Lymphödem sprechen?

“Das Lymphödem ist eine chronische Erkrankung und nicht heilbar. Schätzungen zufolge leiden in Deutschland rund 80.000 Menschen daran – Tendenz steigend. (1) Unsere heutigen Erkenntnisse, wie die Erkrankung bestmöglich therapiert werden kann – mit medizinischer Kompression, manueller Lymphdrainage, Bewegung, der richtigen Hautpflege und einem kompromisslosen Selbstmanagement – wäre ohne die Entdeckung des Lymphsystems nicht möglich. Zwar reicht die Geschichte der Lymphologie weit bis in die Antike zurück – so hat beispielsweise Hippokrates bereits circa 400 v. Chr. ein ,weißes Blut’ beschrieben, aber die eigentliche Entdeckung des Lymphsystems gelang erst im 17. Jahrhundert.”

Weshalb hat dies rund 2.000 Jahre gedauert?

“Aus religiösen Gründen waren anatomische Studien sowie Forschung an Menschen und Tieren verboten beziehungsweise verpönt. Das Wissen der Antike geriet in Vergessenheit. Erst im 17. Jahrhundert galt Naturwissenschaft wieder als Prestigeprojekt: Die Regent:innen eines Landes finanzierten Gelehrte, vergaben Stipendien und begannen, wissenschaftliche Gesellschaften zu gründen, die den Forscherdrang bündelten und publik machten, wie die Royal Society in England oder die Academie des sciences in Frankreich. Die Epoche der empirisch-experimentellen Medizin begann.”

Wer war maßgeblich für die Entdeckung des Lymphsystems verantwortlich?

“Der Italiener Gaspare Aselli wird von vielen als Entdecker der Lymphgefäße angesehen. Beim Sezieren eines Hundes hatte er im Jahr 1622 weißliche Schnüre bemerkt, die eine Flüssigkeit aussonderten – und gab ihnen den Namen venae lacticae, ,Milchgefäße’, ohne jedoch ihre Funktion erklären zu können. Die Reichweite dieser Entdeckung konnte zum damaligen Zeitpunkt noch niemand einschätzen. Rund 30 Jahre später machte ein Franzose eine weitere Entdeckung, die die Gelehrtenwelt Europas einen entscheidenden Schritt voranbrachte: Jean Pecquet bewies, dass die ,Milchgefäße’ nicht in die Leber führten, sondern in einen anderen Gefäßkomplex, die Lendenzisterne, und von dort weiter in den Milchbrustgang. Dies war der Beleg, dass das Lymphsystem in den Blutkreislauf übergeht.”

Wem verdanken wir schlussendlich eingehendere Erkenntnisse über das Lymphsystem?

“Das können sich zeitgleich ein schwedischer und ein dänischer Gelehrter auf die Fahnen schreiben: Olaus Rudbeck aus Västerås und Thomas Bartholin aus Kopenhagen. Beide waren vollständig unabhängig voneinander auf das gleiche Phänomen gestoßen und hatten es nach bestem Wissen und Gewissen beschrieben – und sowohl an Hunden als auch an Menschen eindeutig nachgewiesen. Zudem führte Thomas Bartholin erstmals den Begriff ,Lympha’ ein, was aus dem Lateinischen übersetzt ,klares Wasser’ bedeutet. Rückblickend kann man sagen, die damalige Zeit war schlichtweg reif für die Entdeckung des Lymphsystems. Trotz dieser Entdeckungen setzt sich die Geschichte der Lymphologie maßgeblich erst wieder im 19. Jahrhundert fort, als die Erkenntnisse Eingang in die heutige Schulmedizin fanden: Der dänische Biologe Emil Vodder und seine Frau, Dr. Estrid Vodder, wandten sanfte, rhythmische Handbewegungen bei Patient:innen mit geschwollenen Lymphknoten an, um die Lymphflüssigkeit zu mobilisieren. Diese praktischen Erfahrungen und die Forschung anderer Koryphäen auf dem Gebiet der Lymphologie führten in den 1970er-Jahren dazu, dass seitdem die manuelle Lymphdrainage als effektive therapeutische Methode zur Behandlung von Lymphödemen eingesetzt wird. “

Herzlichen Dank für das Interview.


Weiterführende Informationen:

Lymphödem – Deutsche Gesellschaft für Phlebologie und Lymphologie DGPL – Venenheilkunde (phlebology.de)

Lesen Sie auch:

Krebs: Forschende entwickeln künstlichen Lymphknoten – MedLabPortal

Plattform für räumliche Transkriptomik bildet 3D-Karten kranker Gewebe ab – MedLabPortal

IQWiG bittet um Stellungnahmen zu zwei Brustkrebs-Biomarkern – MedLabPortal


Die Beiträge im News-Bereich werden erstellt vom X-Press Journalistenbüro

Gender-Hinweis. Die in diesem Text verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich immer gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen. Auf eine Doppel/Dreifachnennung und gegenderte Bezeichnungen wird zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet.