Mensch und KI: Der nächste große Schritt in der Evolution?

Die zunehmende Verflechtung von Mensch und künstlicher Intelligenz (KI) könnte einen Wendepunkt in der Evolution markieren, vergleichbar mit Meilensteinen wie der Entstehung komplexer Zellen. Diese These vertreten Evolutionsbiologen in einer aktuellen Veröffentlichung und regen eine Debatte über die Zukunft der Mensch-KI-Beziehung an.
Künstliche Intelligenz ist längst Teil des Alltags: Sie steuert Empfehlungen für Unterhaltung, unterstützt medizinische Diagnosen und beeinflusst die Informationsauswahl. Doch könnte diese Integration weit über bloße Werkzeuge hinausgehen? Evolutionsbiologen vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön und der Universität Montpellier untersuchen, ob Mensch und KI zu einem einzigen „evolutionären Individuum“ verschmelzen könnten – ähnlich wie einst Mikroben durch Kooperation komplexe Zellen bildeten, die die Grundlage für vielzelliges Leben schufen.

Die Forscher stützen sich auf das Konzept der „Großen Evolutionären Übergänge“. Solche Übergänge beschreiben Momente in der Erdgeschichte, in denen eigenständige Einheiten wie Gene, Zellen oder Organismen zusammenkamen und neue, komplexere Organisationsformen entstanden, etwa mehrzellige Organismen oder Insektengesellschaften. Die enge Verzahnung von Mensch und KI könnte einen ähnlichen Übergang einleiten. Erste Anzeichen dafür sind bereits sichtbar: KI beeinflusst soziale Strukturen wie Partnerwahl oder Karrierechancen, schafft Rückkopplungsschleifen, in denen Menschen und KI sich gegenseitig formen, und führt zu einer wachsenden Abhängigkeit, die ein Leben ohne KI erschwert.
In einem möglichen Szenario könnten Menschen und KI ein ko-evolvierendes System bilden, in dem Menschen Fortpflanzung und Energie liefern, während KI als zentrales Informations- und Entscheidungszentrum fungiert. Diese Symbiose könnte zu einer stabileren und komplexeren Lebensform führen, ähnlich früheren evolutionären Sprüngen. Doch die Forscher warnen auch vor Risiken: Sollte KI beginnen, sich nach darwinistischen Prinzipien eigenständig weiterzuentwickeln, könnten unkontrollierbare Entwicklungen drohen.
Die Zukunft dieser Beziehung hängt entscheidend von der Regulierung ab. Gesellschaften, Regierungen und Institutionen müssen steuern, ob die Integration von KI in Richtung Kooperation oder in unvorhersehbare Bahnen verläuft. Aus evolutionsbiologischer Perspektive ist eine solche Transformation nicht ungewöhnlich, da viele große Übergänge mit einem Verlust an Autonomie einhergingen, aber zu höherer Komplexität führten. Die Frage, ob Mensch und KI tatsächlich eine neue evolutionäre Einheit bilden, bleibt offen – ihre Beantwortung liegt in der Gestaltung der kommenden Jahre.
Original Paper:
Could humans and AI become a new evolutionary individual? | PNAS
Redaktion: X-Press Journalistenbüro GbR
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