Krankheit treibt Deutsche in die Schuldenfalle: Experten fordern gezielte Prävention

von | Juli 9, 2025 | Forschung, Gesundheit, Politik

Erstmals ist „Krankheit, Sucht oder Unfall“ im Jahr 2024 die häufigste Ursache für private Überschuldung in Deutschland, wie aktuelle Daten des Statistischen Bundesamts (DESTATIS) zeigen. Mit einem Anteil von 18,1 Prozent überholt dieser Faktor Arbeitslosigkeit, die bei 17,4 Prozent liegt. Die Universität Witten/Herdecke wertet dies als alarmierendes Signal und fordert dringend mehr Forschung sowie präventive Maßnahmen, um Betroffene vor den finanziellen Folgen schwerer Erkrankungen zu schützen. Die Zahlen verdeutlichen eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die Gesundheitswesen, Politik und Wissenschaft gleichermaßen betrifft.

Symbolbild. Credits: Pixabay
Symbolbild. Credits: Pixabay

Die Statistik bestätigt die Erfahrungen vieler Betroffener: Eine schwere Krankheit führt nicht nur zu gesundheitlichen, sondern häufig auch zu erheblichen finanziellen Belastungen. „Eine schwere Krankheit trifft viele Menschen doppelt: gesundheitlich und finanziell“, sagt Prof. Dr. Eva Münster, Inhaberin der Professur für Allgemeinmedizinische Versorgungsforschung in vulnerablen Bevölkerungsgruppen am Institut für Allgemeinmedizin und Ambulante Gesundheitsversorgung der Universität Witten/Herdecke. „Die damit verbundene finanzielle Belastung wird bisher viel zu wenig wahrgenommen – in der Forschung, in der Versorgung und in der Politik.“

Die Gründe für die finanzielle Notlage sind vielfältig. Lange Krankheitszeiten führen zu Einkommensausfällen, während laufende Kreditzahlungen und hohe Zuzahlungen für Medikamente oder Rehabilitationsmaßnahmen die Ausgaben in die Höhe treiben. Das Spektrum der Erkrankungen ist breit und reicht von orthopädischen Problemen wie schweren Bandscheibenvorfällen über psychische Erkrankungen wie Depressionen bis hin zu lebensbedrohlichen Diagnosen wie Krebs oder Herzinfarkt. Für viele Betroffene wird die Kombination aus gesundheitlicher Krise und finanziellen Verpflichtungen zur unüberwindbaren Hürde, die sie in die Überschuldung stürzt.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema steht noch am Anfang. „Wir wissen, dass Krankheit zur Überschuldung führen kann – aber wir wissen viel zu wenig darüber, wie genau das passiert“, betont Münster. Die Kategorie „Krankheit, Sucht oder Unfall“ wird in der Überschuldungsstatistik zwar erfasst, doch es fehlen detaillierte Erkenntnisse über die zugrunde liegenden Mechanismen. Welche Rolle spielen bestimmte Diagnosen? Wie beeinflussen psychische Erkrankungen, Scham oder digitale Konsummuster die Entwicklung? Solche Fragen bleiben weitgehend unbeantwortet, da die Forschung hierzu nur rudimentär vorhanden ist.

Ein besonders problematischer Aspekt ist die mangelnde Differenzierung bei Suchterkrankungen. Da diese in der Statistik nicht gesondert ausgewiesen werden, bleiben sie unsichtbar, was bestehende gesellschaftliche Vorurteile verstärken kann. Um diesem Manko entgegenzuwirken, hat die Universität Witten/Herdecke die Nachwuchswissenschaftlerin Neele Kufeld beauftragt, den Zusammenhang zwischen Suchterkrankungen und Überschuldung systematisch zu untersuchen. Mit ihrer Expertise in Psychologie und Medizin soll Kufeld fundierte Daten liefern, die als Grundlage für künftige Maßnahmen dienen können.

Die Experten drängen auf einen Strategiewechsel. „Wir brauchen nicht mehr Reaktion, sondern zielgenauere Forschung und darauf aufbauende evidente Präventionsmaßnahmen“, erklärt Münster. „Wer eine schwerwiegende Diagnose erhält, muss frühzeitig auch über finanzielle Risiken aufgeklärt und unterstützt werden.“ Wie solche Unterstützung konkret aussehen könnte, ist jedoch noch unklar. Münster betont, dass detaillierte Analysen nötig sind, um den richtigen Zeitpunkt und die passenden Maßnahmen zu bestimmen. Ohne einen solchen Ansatz droht die Zahl der durch Krankheit überschuldeten Menschen weiter zu steigen.

Die Universität Witten/Herdecke sieht in den aktuellen Entwicklungen eine dringende gesellschaftliche Aufgabe. Die Verknüpfung von Gesundheit und finanzieller Stabilität erfordert ein Umdenken in Politik und Gesundheitswesen. Ohne gezielte Prävention und fundierte Forschung wird das Problem der krankheitsbedingten Überschuldung nicht nur einzelne Betroffene, sondern die gesamte Gesellschaft weiter belasten.

Original Paper:

Hauptauslöser der Überschuldung in % – Statistisches Bundesamt


Redaktion: X-Press Journalistenbüro GbR

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