Gutachten warnt vor drohenden Versorgungsengpässen in der HIV-Behandlung

Ein gestern in Berlin vorgestelltes Gutachten zur HIV-Versorgung in Deutschland schlägt Alarm: Bis 2035 könnten bis zu 130 spezialisierte HIV-Ärzte fehlen, um den steigenden Bedarf an einer hochwertigen Versorgung zu decken. Dies entspricht etwa 26 Prozent der benötigten Fachkräfte. Besonders in ländlichen Regionen drohen erhebliche Zugangsprobleme, die die Versorgung von Menschen mit HIV massiv erschweren könnten. Das Gutachten wurde von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin (dagnä), der Deutschen AIDS-Stiftung (DAS) und der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) in Auftrag gegeben und vom IGES Institut in Zusammenarbeit mit dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung erstellt.
Hoher Standard, aber wachsende Herausforderungen
Deutschland verfügt derzeit über ein leistungsfähiges System zur HIV-Versorgung, das auf spezialisierten Schwerpunktpraxen und Klinikambulanzen basiert. Rund 80 Prozent der Menschen mit einer HIV-Diagnose werden erfolgreich von Vertragsärzten mit HIV-Spezialisierung behandelt. Doch die Belastung des Systems wächst rasant: Zwischen 2014 und 2023 stieg die Zahl der Patienten in spezialisierter Versorgung um 38 Prozent – von 49.500 auf 68.500 pro Jahr. Unter der Annahme einer stabilen Rate an Neudiagnosen wird die Zahl der Patienten bis 2035 voraussichtlich auf 96.500 ansteigen. Gleichzeitig könnte die Zahl der beanspruchten HIV-Leistungen in den nächsten zehn Jahren um 44 Prozent zunehmen – ohne Berücksichtigung altersbedingter Begleiterkrankungen wie Stoffwechselstörungen oder Depressionen.
Die Zahl der HIV-Schwerpunktpraxen stagniert jedoch seit Jahren. Zwar ist ein leichter Zuwachs an Behandlern zu erwarten, doch der Trend zu größeren Praxen und Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) führt zu einer Konzentration der Versorgung in Ballungsräumen. Dies verschärft die Probleme in ländlichen Regionen, wo Patienten oft weite Wege zu spezialisierten Praxen oder HIV-Ambulanzen in Kauf nehmen müssen. Besonders ältere Menschen mit HIV, deren Behandlungsbedarf aufgrund komplexer Begleiterkrankungen steigt, sind von diesen Hürden betroffen.

Datengrundlage und Methodik
Das Gutachten basiert auf einer umfassenden Analyse vertragsärztlicher Abrechnungsdaten zur ambulanten HIV-Versorgung von 2014 bis 2023, ergänzt durch Krankenhausberichte, Abrechnungsdaten zur stationären Versorgung sowie eine bundesweite Online-Befragung von Menschen mit HIV. Diese Daten zeigen nicht nur den aktuellen Versorgungsstand, sondern ermöglichen auch belastbare Prognosen für die kommenden Jahre.
Handlungsempfehlungen zur Sicherung der Versorgung
Ohne Gegenmaßnahmen droht in Teilen Deutschlands ein struktureller Kollaps der HIV-Versorgung. Das Gutachten formuliert daher konkrete Handlungsempfehlungen:
- Nachwuchsförderung stärken: Förderprogramme sollten gezielt Anreize für allgemeinmedizinische und internistische Praxen schaffen, sich an der HIV-Versorgung zu beteiligen. Flexible Weiterbildungsbefugnisse könnten mehr Schwerpunktpraxen einbinden, und die Expertise an klinischen und universitären Zentren muss gesichert werden.
- Teilnahme an HIV-Schwerpunktversorgung erleichtern: Ärzte, die sich qualifizieren möchten, benötigen organisatorische, fachliche und finanzielle Unterstützung. Sektorenübergreifende Kooperationsmodelle können die Qualifikation erleichtern.
- Versorgungslücken in ländlichen Regionen vermeiden: Telemedizinische Verbundmodelle und Konsiliarmöglichkeiten sollten flächendeckend gefördert werden. In strukturschwachen Regionen könnten Transporthilfen die Versorgung sichern.
- Zugang zu Prävention ausbauen: Die HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) muss auch bislang unterversorgten Zielgruppen zugänglich gemacht werden, unterstützt durch eine verstetigte extrabudgetäre Vergütung.
- Geriatrische und psychosoziale Versorgung ausbauen: Mit der Alterung der Patienten steigen die Anforderungen an geriatrische und psychosoziale Unterstützung. Dafür sind bessere Vernetzungen, Schulungen in der Pflege und die Einbindung psychosozialer Fachkräfte – auch digital – notwendig.
Ausblick und Verfügbarkeit
Das Gutachten wurde am 10. Juli 2025 im Rahmen des Forums HIV 2025 in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Eine Zusammenfassung ist online verfügbar, die Langfassung findet sich auf der Website der dagnä.
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Redaktion: X-Press Journalistenbüro GbR
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